Es ist unverkennbar, dass Chormusik einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat. Die heutige Chorlandschaft ist neben den professionellen Konzertchören und Vokalensembles von einer Vielzahl ambitionierter Laienchöre und semiprofessioneller Ensembles geprägt, die auf einem ausgesprochen hohen Niveau musizieren. Damit einhergehend wächst auch das allgemeine Interesse sich mit innovativer und anspruchsvoller zeitgenössischer A-cappella-Literatur auseinanderzusetzen.
Der tägliche Umgang mit Neuer Musik ist für einen Großteil nord- und osteuropäischer Chöre ganz selbstverständlich. Dadurch entsteht in diesen Ländern eine beeindruckende Vielfalt neuer Chorkompositionen. Junge Komponist:innen haben zahlreiche Berührungspunkte mit der breiten Chorlandschaft und können umfangreiche Erfahrungen mit vokalen Ausdrucksformen sammeln. Während in Deutschland aktuell viele Kompositionen nach der Uraufführung in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, werden in nord- und osteuropäischen Ländern neue Werke von verschiedenen Ensembles mehrfach aufgeführt und finden so auch den Weg in die Verlagskataloge.
Vokalmusik der Gegenwart aufzuführen und neuen Werken eine echte Perspektive für die musikalische Praxis zu eröffnen, soll auch hierzulande verstärkt gefördert werden. Wir, das Voktett Hannover, möchten junge Komponist:innen motivieren, sich gezielt mit den Möglichkeiten vokaler Klangkörper auseinanderzusetzen und A-cappella-Werke zu schaffen, die neue Klangwelten eröffnen und gleichzeitig auch für die Breite der ambitionierten Chorszene aufführbar sind.
In Kooperation mit dem europaweit wichtigsten Treffpunkt der Vokalmusikszene – der chor.com – und dem renommierten Carus-Verlag haben wir im Jahr 2024 einen neuen Kompositionswettbewerb ins Leben gerufen. ZUR AUSSCHREIBUNG
Die Resonanz auf unseren Aufruf war überwältigend: Insgesamt erhielten wir 89 Einsendungen, die die Vielfalt und Kreativität der zeitgenössischen Chormusik in unserem Land eindrucksvoll widerspiegeln. Aus diesen Bewerbungen wählte eine Fachjury fünf Komponist:innen aus, die zur chor.com 2024 eingeladen wurden, wo ihre Neukompositionen in öffentlichen Proben und in einem abschließenden Konzert von uns präsentiert wurden.
Ein Bericht über den Wettbewerb und unser Konzert ist bei Deutschlandfunk Kultur in der Sendung „Chormusik“ vom 09. Oktober 2024 nachzuhören (Minute 17:58-36:46): https://www.deutschlandfunkkultur.de
DIE PREISTRÄGER
1. PREIS (4.000 €) & Verlagspreis
Elisabeth Fußeder: „Sofðu unga ástin mín“
Sofðu unga ástin mín ist eines der beliebtesten Wiegenlieder in Island. Die Musik basiert auf einem isländischen Volkslied, der Text stammt aus einem Theaterstück von 1912, das von der wahren Geschichte zweier Geächteter handelt. Sie lebten in den Bergen und hatten ein Baby. Die Behörden fanden heraus, wo sie sich versteckt hielten, und die Mutter stellte sich vor, wie auch das Baby von den Behörden mitgenommen würde. Also beschloss sie, es draußen zu lassen, wo es sterben sollte. Dieses Wiegenlied ist das letzte, das sie für das Baby singt. In meinem Kopf gingen die Gedanken beinahe umgehend zu der Not allgemein jener, die verfolgt oder geächtet werden. Die Komposition ist wie ein Gedanke oder auch Kommentar zu dem isländischen Wiegenlied. Sie enthält immer wieder Anlehnungen an die originale Melodie und Charakter, entfernt sich aber ebenso oft vom Original, verzerrt dieses teilweise und lebt in ihrer eigenen Welt, um sich dann jedoch erneut, wenn auch schmerzlich, an das Wiegenlied zu „erinnern“. In der Komposition habe ich Worte/Sätze aus dem Wiegenlied herausgegriffen, die ich als besonders ausdrucksstark empfand, um sie auf diese Weise noch weiter zu unterstreichen. Der Satz “[…] mennirnir elska, missa, gráta og sakna“ (Menschen lieben, verlieren, weinen und trauern) findet sich beispielsweise in der Komposition an mehreren Stellen wider, ganz besonders das Wort „elska“ (lieben), das ich als Grundlage für „missa“ (weinen) und vor allem auch „sakna“ (trauern) empfinde. Auch „Mamma geymir gullin þín“ (Mama wacht über deinen Schatz), dass die Liebe der Mutter zu ihrem Kind so einfühlsam zum Ausdruck bringt, findet sich in der Komposition wieder – sowie „minn er hugur þungur“ (mein Geist ist schwer).
2. PREIS (2.000 €), Publikumspreis (1.000 €) & Verlagspreis
Martín Letelier: „Soliloquy“
„Soliloquy“ (2024) ist ein Werk für Erzähler und Vokalsextett. Das Werk basiert auf der Kurzgeschichte „The Tell-Tale Heart“ von Edgar Allan Poe, die aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines Mordes von der Planung bis zur Ausführung erzählt. In der Handlung ist der Protagonist besessen vom Auge eines alten Mannes, mit dem er zusammenlebt. Er beschließt, ihn jede Nacht um Mitternacht zu besuchen, ohne dass er es merke, mit dem Ziel, ihn zu töten, wenn er ihn mit offenem Auge antreffe.
In dieser Komposition wird die Musik auf kontrastierende Ästhetik und Techniken zurückgreifen, um den psychotischen Zustand des Protagonisten zu betonen. Das begleitende Vokalensemble wird so zu einer „Erweiterung“ der Gedanken und Gefühle des Erzählers, der während seines Diskurses in einer nächtlichen und unheimlichen Umgebung Momente der Angst und sarkastischen Belustigung durchläuft.
Das Thema „Nocturne“ wird aus einer düsteren, beängstigenden Perspektive betrachtet. Die Erzählung spielt sich ausschließlich in der Nacht ab und ist von Momenten des Abschweifens, der perversen Gedanken, der Kontemplation und vor allem der Dunkelheit gekennzeichnet. Gerade diese für die menschliche Psyche so charakteristische Assoziation zwischen Dunkelheit und Angst zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk. Bekanntlich ist die Nacht in der populären Vorstellung für gewöhnlich der Hintergrund für die makabersten Verbrechen, und dies wird keine Ausnahme sein.
Das Werk ist in drei Teile bzw. Sätze strukturiert, die sich bis hin zur Ausführung des Verbrechens entwickeln. Im ersten Teil, „Thoughts“, werden die psychotischen Gedanken des Protagonisten dargeboten. Der zweite Teil, „Stimmen“, spielt im Zimmer des alten Mannes, umgeben von absoluter Dunkelheit, in der man Flüstern und Stimmen hört, die das euphorische Gefühl des Mörders begleiten, der zur Tat bereit ist. Der dritte Teil, „Actions“, ist die Auflösung, in der das Schlagen des Herzens des alten Mannes allgegenwärtig ist – bis zu dem Moment, in dem es aufhört zu schlagen.
„Soliloquy“ ist ein Werk, das den Musikern eine interessante Kammerarbeit anbietet und den Wert des theatralischen Elements in den Konzertkontext stellt. Sein Inhalt, der auf einem ikonischen Text aus der Schauerliteratur basiert, nimmt uns mit auf eine düstere und makabre Reise, lädt uns aber auch dazu ein, über die psychologische Zerbrechlichkeit des Menschen nachzudenken, und die Folgen, wenn diese instabil wird.
3. Preis (1.000 €) & Verlagspreis
Marc L. Vogler: „Clockwork“
Jeder kennt es: man versucht einzuschlafen und irgendwo im Raum tickt leise, aber beharrlich eine Uhr. Je mehr man versucht, das Ticken zu ignorieren, desto lauter wird es. An Schlaf ist nicht zu denken. Die Zeit beginnt zu sprechen. Und flüstert von Vergänglichkeit.
Mitte 2022 machte ich in meinem Arbeitszimmer erstmalig – obschon seit Jahren in diesem Zimmer arbeitend – die Entdeckung, dass bei genauem Hinhören in meinem Büro nicht nur eine, sondern zwei Uhren ticken. Die zweite jedoch leiser und ferner als die erste. Das Ticken der beiden Uhren ist naturgemäß nicht synchron, nicht gleichförmig, sondern polyphon, rhythmisch leicht gegeneinander verschoben, sich mal einander annähernd, sich mal voneinander entfernend. Die Uhren treten in einen musikalischen Dialog, ein rhythmischer Kontrapunkt entsteht: die Idee zur Komposition „clockwork“ war geboren.
Eine Rhythmuskomposition für Vokalensemble, eine Art vokales Uhrwerk zu komponieren empfand ich als reizvoll, ist doch Chor- und Vokalmusik, zumal das breite Repertoire der klassischen Chorliteratur, nicht gerade für seine Rhythmen, denn mehr für seine Harmonie und Klanggestaltung bekannt. Doch schließlich ist Musik eine Zeitkunst, ist Musik Zeit. Und die Uhr ist das Instrument der Zeit.
Im Sinne eines in sich geschlossenen Stückes, eines selbstreferenziellen Stückes mit geschlossener Form war mir wichtig, dass Titel, Musik und Text eine Einheit bilden. So kam die Idee des englischen Titels auf: „clockwork“ ist eine Onomatopoesie, d.h. eine sprachliche Nachahmung eines außersprachlichen Schallereignisses. Es bezeichnet semantisch nicht nur ein „Uhrwerk“, sondern imitiert zugleich in seiner klanglichen Fraktur, in seinem Wortklang, das Ticken der Uhr („klock“). Da es zudem auch noch den Werkbegriff („work“: engl. Werk) im Namen trägt, schien „clockwork“ mir im doppelten Sinne ideal als Keimzelle dieser Vokalkomposition. Eines Stückes, das die Grenzen aufzubrechen versucht zwischen Wortsinn und Wortklang – zwischen Sprache und Gesang.
ENSEMBLEPREIS VOKTETT HANNOVER
Michael Schultheis: „Laute Lust“
Im inhaltlichen Zentrum von „Laute Lust“ steht das romantische Gedicht „Der Abend“ von Eichendorff. In dem Text entfaltet sich eine naturnahe und idyllische, melancholische Atmosphäre – erst in der Stille des Abends kann der Mensch zu sich kommen und sein „Herz“ bewegen lassen.
Diesem chorisch gesungenen Gedicht werden einzelne solistisch gesprochene Einschübe zur Seite gestellt, die Gedichten des Expressionismus entstammen. Auch hier werden Vorstellungen vom Abend thematisiert, der Kontrast von Stadt und Land, die Erfahrungen des Krieges. Durch die Zusammenstellung dieser Texte wird eine neue inhaltliche Ebene konstruiert, in der sich die Texte über den Abgrund der Zeit hinweg dialogisch begegnen. Zahlreiche Begriffe verbinden die Texte miteinander: Bäume, stumm/schweigen/flüstern, laute Lust/Gegröhle, Herz, Tag/Abend, Trauer/weinen.
Die Gedichte der Expressionisten, die gute einhundert Jahre später entstanden sind, wirken wie eine späte Antwort auf die Ängste der Romantiker, die bereits im 19. Jahrhundert die (Welt)Flucht in die Natur als Ausweg von der sich verändernden, auch industrialisierenden, Lebenswelt sahen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Welt noch dunkler und pessimistischer geworden. Jenseits der verlorenen Idylle der Romantik und der Dystopie der frühen Moderne können die Texte heute im 21. Jahrhundert vielleicht wieder eine neue, vorsichtig hoffnungsvolle Botschaft entfalten.
Akustische („Schweigt“, „laut“, „Rauscht“) und visuelle („schweifen“, „wetterleuchtend“) Begriffe des Eichendorff-Textes sind die Ankerpunkte für diese Vertonung, die ein sinnliches Klangerleben in den Vordergrund stellt. Mit der Aufspaltung in die Doppelchörigkeit wird ein Mittel zur subtilen Klangdifferenzierung etabliert. Durch die zusätzlich räumliche entfernte Aufstellung werden Klänge möglich, die das Rauschen und Wogen der Bäume und das Wetterleuchten (das ja immer auch ein in der Ferne stattfindendes Phänomen ist) akustisch übersetzen. Dabei werden verschiedenste Techniken erkundet, die Doppelchörigkeit zu nutzen: Ping-Pong-Effekte (die der Popmusik entlehnt sind), Vokalüberblendungen, bitonale Strukturen, rhythmisch unabhängige Klangblöcke. Zahlreichende Glissandi verstärken dabei den Eindruck eines hin- und herwogenden Klanges. Die Worte werden dabei stellenweise in ihre Phoneme aufgelöst und herumgereicht.
Harmonisch spielt die Musik an vielen Stellen auf Klangidiome der Romantik an, besonders deutlich an der Stelle „Alte Zeiten, linde Trauer“ und verweist damit auf ihre eigene Geschichtlichkeit. Techniken wie der Einsatz von Glissando, der Einschub gesprochener Teile und die Collagierung des Klanges dagegen brechen dieses Klangidiom. Die Klanglichkeit der Romantik, die auch heute noch vielfach als Ideal klassischer Musik angesehen und imitiert wird (z.B. in der Filmmusik), ist eben keine zeitlose Musik, sondern an ein längst vergangenes Lebensgefühl gebunden, das bis heute Sehnsuchtsgefühle und Nostalgie weckt.
FINALIST
Peer Baierlein: „L’appel du vide“
„L’appel du vide“ ist nach einem Text der Kleist-Preis-Gewinnerin Franziska vom Heede entstanden. Die Dunkelheit/Nocturne steht für die Klimakatastrophe, für den Weltkrieg, für den Weltuntergang, für das Ende. So wie die Nacht den Tag beendet. Was aber, wenn auf die Nacht ein neuer Tag folgt? Ein Erwachen aus der Dunkelheit, denn der erwartete Weltuntergang ist vorerst ausgeblieben. Stattdessen hat die Nacht ihre Spuren im Erwachen hinterlassen. Die Komposition beginnt mit diesem neuen Tag nach dem Ende der Welt, das im letzten Moment abgewendet wurde. Eine Ansammlung von Stimmen ist heute tot aufgewacht. Sie sind die Trümmer – einzelne Styropor-Perlen. Die Wörter „ich” und „atme” (als „Sich-Bewusst-Werden” des „Nicht-Tot-Seins”) schälen sich langsam heraus. Sprechgesang geht in mehreren Stufen über in immer konkretere Musik, Harmonien und Melodien. Die Trümmer singen an gegen die Bedeutungslosigkeit jedes/jeder Einzelnen und formieren sich als Chor, um sich in die Höhe zu katapultieren, Wiedergeburt im Rausch zu erfahren, ohne tot gewesen zu sein.
Nach der Fast-Katstrophe und deren Überleben, findet ein Streben aus der Tiefe („In Vacuo”) in die Höhe („In Excelsis”) statt. Die Autorin ist auf das psychologische und sehr sinnliche Phänomen „L´appel du vide” gekommen. Es ist der sogenannte „Ruf der Leere”, das Gefühl bzw. der Gedanke daran, in die Tiefe springen zu wollen, wenn man sich an hoch gelegenen Orten befindet (Klippe, Hochhaus, Brücke). Personen, die empfindlicher auf angstbedingte Körpersignale reagieren, sind anfälliger für das „High Place Phenomenon”. Das bedeutet, ein Körper der sensibel gegenüber Herzklopfen und Schwindel ist, schaltet bei der kleinsten Aussicht auf Gefahr auf Flugmodus und interpretiert genau diese Signale dann fälschlicherweise als Sprunggedanken. Ein Missverständnis also. Der Wunsch danach, in die Tiefe springen zu wollen, ist damit keine Todessehnsucht—im Gegenteil: Er zeugt von erhöhtem Überlebenswillen. Worte der Bewegung und sich bewegende Sänger:innen symbolisieren die Metamorphose vom Erwachen bis zum ersehnten Sprung.